Vereint in Bewegung
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- Veröffentlicht am Samstag, 02. Juli 2016
- Geschrieben von Peer Falkenberg
Von den Anfängen der Turnbewegung und des Vereinswesens
Dieser Beitrag zur Turngeschichte gibt am Beispiel der Hamburger Turnerschaft von 1816, dem ältesten Verein in Deutschland, einen guten Einblick in die Entstehung der Turnkultur und zeigt Werte an, die auch heute noch für die Arbeit der Turnvereine eine Orientierungshilfe sind.
Mit der Gründung der Hamburger Turnerschaft beginnt 1816 die Geschichte des organisierten Sports in Deutschland. Die Treffen einiger vaterlandsverliebter Draufgänger sind die Keimzellen der demokratischen und sozialen Vereinsszene. Diese Faszinationskraft der Turnkunst ist ungebrochen: Millionen Menschen treiben heute Sport im Verein und erfolgreiche Turner wie Fabian Hambüchen sind gefeierte Stars.
Im Jahr 1815 zog der achtzehnjährige Wilhelm Benecke von Berlin nach Hamburg, um dort seine Kaufmannslehre fortzusetzen. Die Befreiungskriege waren vorüber, die französische Besatzung beendet. In Berlin hatte Benecke begeistert mit vielen anderen
jungen Männern auf dem von Turnvater Jahn 1811 gegründeten Turnplatz auf der Hasenheide geturnt und daran sollte ihn der Umzug nicht hindern: Im Hof seiner neuen Hamburger Unterkunft baute er einige Turngeräte wie Reck, Barren und Kletterstange auf. Bald turnten auch in der Hansestadt mit Benecke und dem ebenfalls aus Berlin stammenden K. Krutisch immer mehr Turner. Ein im Reitstall ansässiger Fechtmeister G. Nicolai, ein früherer Husarenleutnant in der dänischen Armee und ebenfalls erklärter Turner, gründete 1816 den Hamburger Turnplatz, nach ganz bestimmten Vorgaben. Benecke und Krutisch schlossen sich mit ihren Turnern an und die Hamburger Turnerschaft von 1816 (HT 16) war geboren. Und damit etwas bahnbrechend Neues:
- Eckpfeiler der Turngemeinschaft waren die Finanzierung durch Mitgliedsbeiträge,
- Ehrenamtlichkeit, Gemeinnützigkeit und die Mitbestimmung aller durch eine Turnordnung, der Vorform der heutigen Vereinssatzung.
Laut Historiker Michael Bergeest ist die Anstalt 1817 erstmals im Hamburger Adressbuch erwähnt: „Turn-Anstalt“ oder das „körperliche Bildungs-Institut“, wo die Jugend in allen Leibesübungen, nämlich im Laufen, Springen, Klettern, Exerzieren, Fechten, Hauen, Tanzen, Schwimmen, Eislaufen u.a.w. unterrichtet wird.“
Die Zahl der Turner auf dem „Ericus“, dem damaligen Turnplatz auf dem heutigen Rathausmarkt, wuchs schnell. Ab dem Winter 1817 gelang es ihnen, den Bretterboden der von den Franzosen zum Pferdestall umfunktionierten St. Johanniskirche zu mieten. Damit hatte Hamburg seine erste Turnhalle.
Als Benecke 1819 wieder zurück nach Berlin ging, zählte die Turnerschaft schon 140 Mitglieder. 1849 baut die HT16 als erster Verein eine vereinseigene Halle. Zahlreiche weitere Vereinsgründungen im ganzen Land folgten, dem Turner-Boom stand nichts mehr im Wege.
Vereine als Selbstorganisation
Wie konnte das Turnen so eine enorme Wirkung entwickeln? Was zog die jungen Männer an? Die ersten Turnvereine trafen ins Herz der jugendlichen Seelen. Schon ganz frühe Vorformen des heutigen Vereinswesens, wie Freimaurerlogen oder Patriotische
Gesellschaften, versuchten seit Mitte des 18. Jahrhunderts die mittelalterlichen Zünfte und Stände hinter sich zu lassen. Die Bürger fingen an, sich selbst zu organisieren und wichtige öffentliche Aufgaben wahrzunehmen. In dieser Tradition sahen sich die Turner und fühlten sich als Bürgerbewegung, die sich das Schlagwort Freiheit und Einigkeit auf die Stirn geschrieben hatte. Im Vordergrund standen das Gemeinschaftsgefühl und die Gleichheit der Mitglieder, betont durch die ausschließliche Verwendung des „Du“.
Entsprechend diente die Turnbewegung Jahns von Anfang an nationalpolitischen Zwecken. Schüler und Studenten, Handwerkslehrlinge und -gesellen sowie junge Kaufleute sollten sich in der schichtenübergreifenden Männergemeinschaft zu „echt deutschen“ Männern ausbilden. Ihre erklärten Hauptziele waren „Deutschheit, Mannheit und Freiheit“. Ihre Bibel war das 1816 von Jahn und Ernst Eiselen herausgegebene Buch „Die Deutsche Turnkunst“, in dem akribisch alle möglichen Turndisziplinen und Übungen beschrieben sind. Die Zeit dafür war überreif: Der Deutsche Bund, der am 8. Juni 1814 auf dem Wiener Kongress ins Leben gerufen wurde, bestand aus 41 souveränen Fürstentümern und freien Städten. Die Menschen mussten mit Grenzkontrollen, Binnenzöllen und zahlreichen bürokratischen Hürden leben und sich an neue Maßeinheiten gewöhnen. Es gab keine deutsche Hochsprache, die oberen Schichten sprachen Französisch oder Latein. Die Obrigkeit beäugte ihre Untertanen misstrauisch und hatte an ihrem Reformstau zu knabbern. Unter diesen Umständen ist es verständlich, dass sich viele einen deutschen Nationalstaat, ein vereinigtes Vaterland herbeisehnten wie Jahn, obwohl der damit leider auch eine antifranzösische und antisemitische Haltung einnahm und entsprechend später ideologisch vom faschistischen und nationalsozialistischen Lager vereinnahmt wurde.
Der Historiker und Lehrer Walther Borgius wies schon 1930 darauf hin, dass zudem um 1800 herum die körperliche Erziehung völlig in den Hintergrund geraten war und der Staat keinerlei Interesse an Gesundheit oder Wohlergehen der Kinder hatte allen Hinweisen
namhafter zeitgenössischer Pädagogen zum Trotz. Egal was Rousseau, Pestalozzi oder GutsMuths gefordert hatten, was Kindern Spaß macht, war verboten. Aktivitäten wie Herumtollen, Toben, ins Wasser springen und planschen, galten als Untugenden, als eine für das Staatsinteresse nicht nützliche Allotria, also Unfug und wurden in der Schule mit strengen Strafen verfolgt. Erst um 1842 herum, als sich französische Truppen wieder der
Rheingrenze näherten, war die Regierung an einem erwachenden Nationalgefühl interessiert. Die Frage nach der militärischen Tüchtigkeit des deutschen Volksheeres wurde neu gestellt und per Kabinettsorder vom 6. Juni 1842 wurde prompt das Turnen
empfohlen und 1862 in allen Volksschulen eingeführt.
Heute zählt der Deutsche Olympische Sportbund (DOSB) knapp 90.000 Turn - und Sportvereine und die Allotria, der grobe Unfug, später Zirkus, ist ein höchst
willkommener Bestandteil des Sports geworden.
Von Nicola Berchthold (Verband für Turnen und Freizeit in Hamburg) und bearbeitet von Wolfgang Pfannemüller (Dreieich), im Februar 2016.
Aktuelle Informationen über den Verein Hamburger Turnerschaft unter www.htg16.de.